Es ist 7:23 Uhr in Tokio. Der Zugführer der U-Bahn-Linie Yamanote hebt die Hand, zeigt auf die Geschwindigkeitsanzeige und sagt laut: „Geschwindigkeit 60 km/h – bestätigt.“ Er zeigt auf die Signalleuchte: „Signal grün – bestätigt.“ Dann auf die Türsteuerung: „Türen links – geöffnet.“
Das mag übertrieben wirken. Aber die Zahlen sprechen für sich: Seit Einführung dieser Methode – genannt Pointing and Calling – ist die Fehlerquote im japanischen Bahnverkehr um bis zu 85 % gesunken.
Was hat das mit deinem Lernen zu tun?
Mehr, als du vielleicht denkst. Denn die Technik dahinter – bewusste Selbstinstruktionen – funktioniert nicht nur im Zugverkehr. Sie funktioniert überall dort, wo Konzentration, Präzision und Struktur wichtig sind. Also auch beim Lernen.
Was sind Selbstinstruktionen?
Selbstinstruktionen sind bewusste Selbstgespräche, mit denen wir uns selbst durch eine Aufgabe führen. Wir sprechen aus – laut oder innerlich –, was wir gerade tun, warum wir es tun und worauf wir achten müssen.
Das klingt simpel. Ist es auch. Aber genau darin liegt die Kraft.
Ein Beispiel aus dem Lernalltag:
👤 Sarah sitzt über einem Zeitungsartikel für ihre Hausarbeit. Sie soll die wichtigsten Argumente herausarbeiten. Normalerweise würde sie einfach anfangen zu lesen – Zeile für Zeile, automatisch, während ihre Gedanken abschweifen. Nach zehn Minuten weiß sie nicht mehr, was wichtig war.
Diesmal probiert sie etwas Neues. Sie sagt leise zu sich selbst: „Jetzt markiere ich die wichtigsten Argumente. So finde ich sie später schneller wieder und kann sie direkt in meine Gliederung übernehmen.“
Allein durch diesen Satz verändert sich etwas. Sie liest aufmerksamer. Bei jedem Absatz fragt sie sich: Ist das ein wichtiges Argument? Das Unterstreichen wird vom automatischen Reflex zu einer bewussten Entscheidung. Sie weiß am Ende genau, was sie markiert hat – und warum.
Warum funktionieren Selbstinstruktionen?
Wenn wir laut oder innerlich aussprechen, was wir tun, passiert etwas Faszinierendes im Gehirn: Wir aktivieren mehrere Prozesse gleichzeitig.
1. Sprache macht Gedanken konkret
Indem wir etwas in Worte fassen, wird es klarer. Ein diffuses „Ich sollte jetzt lernen“ wird zu „Jetzt schreibe ich eine Zusammenfassung des ersten Kapitels – in eigenen Worten, damit ich es wirklich verstehe.“
Die sprachliche Formulierung zwingt uns, präzise zu sein. Und Präzision hilft dem Gehirn, sich zu fokussieren.
2. Aufmerksamkeit bleibt gebunden
Unser Gehirn ist ein Meister darin, abzuschweifen. Besonders bei monotonen oder anstrengenden Aufgaben. Selbstinstruktionen wirken wie ein Anker: Sie holen uns immer wieder zurück zum Wesentlichen.
Studien zeigen, dass Menschen deutlich weniger Fehler machen, wenn sie ihre Handlungen benennen. Das gilt für Chirurgen genauso wie für Piloten – und eben auch für Lernende.
3. Motorik verstärkt die Wirkung (optional)
Wenn du Selbstinstruktionen mit einer Geste verbindest – etwa beim Zeigen auf eine Stelle im Text oder beim bewussten Markieren –, verstärkst du den Effekt noch einmal. Sprache und Bewegung werden im Gehirn gekoppelt. Das macht die Erinnerung robuster.
Zusammengefasst: Selbstinstruktionen sind wie ein Doppelklick fürs Gehirn. Du denkst nicht nur – du sprichst, du handelst, du verankerst. Und genau das macht dein Lernen stabiler, auch unter Druck.
Wie du Selbstinstruktionen beim Lernen einsetzt
Die Technik ist einfach: Sprich aus, was du gerade tust – und vor allem warum du es tust.
Hier einige konkrete Beispiele aus verschiedenen Lernkontexten:
Beispiel 1: Texte bearbeiten
Ohne Selbstinstruktion:
Du liest einen Text, markierst hier und da etwas, bist aber nicht wirklich bei der Sache. Am Ende weißt du nicht mehr, was du eigentlich markiert hast.
Mit Selbstinstruktion:
„Jetzt unterstreiche ich die wichtigsten Informationen – so finde ich sie später schneller wieder und kann gezielt damit arbeiten.“
Was sich ändert: Du liest aktiver. Jede Markierung ist eine bewusste Entscheidung. Du weißt am Ende genau, was du hervorgehoben hast – und warum.
Beispiel 2: Texte schreiben
Ohne Selbstinstruktion:
Du starrst auf das leere Blatt. Der Einleitungssatz will nicht kommen. Du fängst an, löschst wieder, fängst neu an.
Mit Selbstinstruktion:
„Jetzt schreibe ich den Einleitungssatz. Ich achte auf fünf Punkte: Textsorte, Autor, Titel, Erscheinungsjahr und Thema. Dann habe ich eine klare Struktur.“
Was sich ändert: Du kommst ins Handeln. Die Selbstinstruktion gibt dir eine Checkliste, an der du dich entlanghangeln kannst. Der Satz ist vielleicht nicht perfekt – aber er steht.
Beispiel 3: Mathematik oder Formeln
Ohne Selbstinstruktion:
Du schaust auf die Formel, versuchst sie im Kopf zu lösen, vertust dich bei den Vorzeichen, fängst von vorne an.
Mit Selbstinstruktion:
„Zuerst schreibe ich die Formel ab – so sehe ich jeden Schritt. Dann vereinfache ich Schritt für Schritt und prüfe nach jedem Schritt, ob das Vorzeichen noch stimmt.“
Was sich ändert: Du gehst strukturiert vor. Jeder Schritt ist sichtbar. Fehler fallen dir früher auf, weil du sie beim Aussprechen bemerkst.
Beispiel 4: Vorbereitung auf mündliche Prüfungen
Ohne Selbstinstruktion:
Du lernst den Stoff, aber unter Druck in der Prüfung fällt dir plötzlich nichts mehr ein. Die Nervosität blockiert.
Mit Selbstinstruktion (beim Üben):
„Ich erkläre das Thema jetzt laut – so, als würde ich es jemandem beibringen. Erst die Definition, dann ein Beispiel, dann die Anwendung.“
Was sich ändert: Du übst nicht nur das Wissen, sondern auch das Abrufen unter Druck. In der Prüfung hast du eine innere Struktur, an der du dich entlanghangeln kannst.
Wie du anfängst: Drei praktische Schritte
Selbstinstruktionen wirken am besten, wenn du sie regelmäßig einsetzt. Hier eine Anleitung, wie du sie in deinen Lernalltag integrierst:
Schritt 1: Starte mit einer einfachen Lernaufgabe
Such dir eine konkrete Aufgabe aus – nichts Komplexes, etwas Alltägliches. Zum Beispiel:
- Einen Text lesen und markieren
- Eine Zusammenfassung schreiben
- Eine Matheaufgabe lösen
Schritt 2: Sprich aus, was du tust – laut oder leise
Formuliere für dich selbst:
- Was du gerade machst
- Warum du es machst
- Worauf du achten willst
Beispiel:
„Jetzt lese ich das erste Kapitel und markiere die Definitionen – damit ich sie später schnell wiederfinde.“
Schritt 3: Beobachte, was sich verändert
Nach der Aufgabe: Kurz innehalten und reflektieren.
- Warst du konzentrierter?
- Hast du weniger Fehler gemacht?
- Fühlte es sich strukturierter an?
Wenn ja: Weitermachen. Wenn nicht: Die Formulierung anpassen. Manchmal braucht es ein paar Versuche, bis es sich natürlich anfühlt.
Selbstinstruktionen unter Druck: In Prüfungen und Stresssituationen
Selbstinstruktionen sind nicht nur beim Lernen hilfreich – sondern besonders dann, wenn es darauf ankommt: in Prüfungen, bei Präsentationen, in stressigen Momenten.
Warum?
Unter Stress schaltet unser Gehirn in den „Überlebensmodus“. Wir denken weniger klar, reagieren impulsiv, vergessen Gelerntes. Selbstinstruktionen wirken hier wie ein kognitiver Anker: Sie holen uns zurück in die Struktur.
Beispiel: Mündliche Prüfung
Du wirst nach einem Thema gefragt. Dein erster Impuls: Panik. Du weißt nichts mehr.
Statt in die Blockade zu geraten, kannst du dir innerlich sagen:
„Erstmal durchatmen. Dann anfangen mit der Definition. Dann ein Beispiel. Schritt für Schritt.“
Diese innere Anweisung aktiviert das, was du geübt hast. Sie gibt dir eine Handlungsstruktur – und genau die brauchst du in dem Moment.
Selbstinstruktionen und Selbstregulation
Es gibt noch einen weiteren Effekt, der über das einzelne Lernen hinausgeht: Selbstinstruktionen fördern Selbstregulation.
Was bedeutet das?
Selbstregulation ist die Fähigkeit, das eigene Denken, Fühlen und Handeln bewusst zu steuern. Wer sich selbst durch Aufgaben führen kann, entwickelt eine wichtige Meta-Kompetenz: die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben.
Wenn du regelmäßig Selbstinstruktionen nutzt, trainierst du nicht nur das Lernen. Du trainierst auch:
- Impulskontrolle: Du handelst nicht automatisch, sondern bewusst
- Planung: Du strukturierst dein Vorgehen, bevor du loslegst
- Reflexion: Du bemerkst, wenn etwas schiefläuft – und kannst gegensteuern
Diese Fähigkeiten sind weit über das Lernen hinaus wertvoll: im Studium, im Beruf, im Leben.
Fazit: Sprich mit dir selbst – es lohnt sich
Selbstinstruktionen sind eine der einfachsten und gleichzeitig wirkungsvollsten Lerntechniken. Sie kosten nichts, sind sofort umsetzbar – und funktionieren.
Sie machen Gedanken klarer, reduzieren Fehler, stärken die Konzentration. Und sie helfen dir, auch unter Druck strukturiert zu bleiben.
Der Zugführer in Tokio zeigt es jeden Morgen: Wer bewusst ausspricht, was er tut, macht weniger Fehler. Das gilt für U-Bahnen genauso wie für Hausarbeiten, Matheklausuren und mündliche Prüfungen.
Probiere es heute aus. Such dir eine Lernaufgabe und sprich laut mit dir selbst, während du sie bearbeitest. Erkläre dir jeden Schritt. Es wird sich erst ungewohnt anfühlen – vielleicht sogar albern. Aber nach ein paar Minuten merkst du: Es hilft.
Und wenn du merkst, dass es funktioniert, mach weiter. Aus einer Übung wird eine Gewohnheit. Und aus einer Gewohnheit wird eine Fähigkeit, die dich durch dein ganzes Studium – und darüber hinaus – begleiten kann.




