
Die Zeugnisse sind da – für manche ein Grund zur Freude, für andere ein Moment der Ernüchterung. Doch wie stark sollten Noten eigentlich unseren Selbstwert beeinflussen? Und wie können wir sie als Werkzeug nutzen, um uns realistisch einzuschätzen, ohne uns von ihnen zu sehr leiten zu lassen?
Das Konzept: Selbstwert als Quotient von Erwartung und Realität
In der Psychologie gibt es einen Ansatz, der den Selbstwert als eine Art „Quotient“ versteht – das Verhältnis von Erwartung und tatsächlichem Erfolg. Vereinfacht
gesagt: Wenn wir unsere Leistung überschätzen und das Ergebnis enttäuscht, kann das unseren Selbstwert belasten. Auf der anderen Seite kann eine unerwartet gute Leistung unser Vertrauen in uns
selbst stärken. Doch wie gut spiegelt dieser „Quotient“ wirklich unsere Lernfähigkeit wider?
Die Methode: Erwartungs-Realitäts-Abgleich
Schritt 1: Erwartung und Realität vergleichen
Schreibe für jedes Fach auf, welche Note du erwartet hast. Nutze das Punktesystem (15 Punkte = 1+, 14 Punkte = 1, usw.). Trage daneben ein, welche Note du tatsächlich erhalten hast.
Schritt 2: Den Erwartungs-Realitäts-Abgleich (ERA) berechnen
Berechne für jedes Fach den Erwartungs-Realitäts-Abgleich: ERA = Tatsächliche Punkte ÷ Erwartete Punkte, also z.B. Deutsch: Erwartung: 10 Punkte, Realität: 12 Punkte → ERA = 12÷10 = 1,2.
Schritt 3: Deine Reflexion
ERA ≈ 1: Deine Erwartungen waren realistisch → eher neutral in Bezug auf das Selbstwertgefühl.
ERA < 1: Die Note war schlechter als erwartet → möglicherweise belastend für den Selbstwert.
ERA > 1: Deine Note war besser als erwartet → kann dein Selbstwertgefühl steigern.
Was du aus dem Abgleich lernen kannst
Viele Werte unter 1: Vielleicht hast du deine eigenen Fähigkeiten überschätzt oder es gab unerwartete Schwierigkeiten. Dies kann eine gute Gelegenheit sein, ehrlich zu prüfen, ob du deine Lernstrategien anpassen solltest, um in deine Ansprüche hineinzuwachsen. Es könnte aber auch ein Hinweis sein, dass du unter größerem Leistungsdruck stehst – hier kann es helfen, weniger streng mit dir zu sein und auch kleinere Erfolge zu würdigen.
Viele Werte über 1: Das weist darauf hin, dass du dich zu sehr unterschätzt hast. Vielleicht sehen andere mehr Potenzial in dir als du dir selbst zugestehst? Oder aber du
stapelst lieber tief, um keine bösen Überraschungen zu erleben – doch auch hier könnte es hilfreich sein, etwas selbstbewusster aufzutreten!
Besondere Fälle: Sehr hohe oder niedrige ERA
- Ein sehr hoher Wert (z. B. Erwartung: 4 Punkte, Realität: 8 Punkte → ERA = 2) weist darauf hin, dass du viel mehr kannst, als du dir zutraust. Vielleicht liegt es an Unsicherheit oder fehlendem Selbstvertrauen, dass du dein Potenzial nicht voll ausschöpfst?
- Ein sehr niedriger Wert ist ein Signal, dass du dich überschätzt hast oder deine Anstrengungen nicht honoriert wurden. Hier kann auch ein Gespräch mit der Lehrperson hilfreich sein, um diese Diskrepanz zu besprechen.
- Besonders bei niedrigen Noten: Gerade im unteren Notenbereich reagiert der ERA besonders sensibel auf Unterschiede zwischen Erwartung und Realität (z. B. Erwartung: 4 Punkte, Realität: 2 Punkte → ERA = 0,5 oder Erwartung: 2 Punkte, Realität: 5 Punkte → ERA = 2,5). Dies kann dir helfen, genau hinzusehen und zu verstehen, ob es ein Warnsignal für eine notwendige Veränderung ist oder ob es im Gegenteil gar nicht so dramatisch wie befürchtet ist.
Achte auf deinen „Negativity Bias“:
Wir neigen dazu, negative Abweichungen stärker zu empfinden als positive. Ein ERA von 0,8 fühlt sich oft schlimmer an als ein ERA von 1,2 sich gut anfühlt. Diese Methode soll helfen, eine
realistischere Einschätzung zu entwickeln und sich nicht von negativen Ergebnissen entmutigen zu lassen. Wenn du merkst, dass eine Abweichung nach unten dich besonders ärgert, dann schau nach, ob
es nicht doch auch ein paar überraschende Abweichungen nach oben gab.
Fazit: Noten sind nur ein Teil des Ganzen
Noten sind eine Rückmeldung – aber sie sind nicht der einzige Maßstab für deinen Lernprozess oder gar deinen Selbstwert. Wichtig ist, dass du dich nicht ausschließlich durch äußere Erfolge
definierst, sondern deinen Fortschritt auch an inneren Entwicklungen misst. Wenn du mit Hilfe des hier vorgestellten ERA feststellst, dass du über eine sehr gesunde Selbsteinschätzung verfügst,
ist das doch auch schon ein Erfolg! Dies zeigt dir, dass du deine Erwartungen realistisch einschätzen kannst, was ein wichtiger Schritt auf deinem Lernweg ist. Und wenn du merkst, dass deine
Erwartungen oft zu hoch oder zu niedrig waren, experimentiere mit realistischeren Zielen und übe so, deine Selbstwahrnehmung zu stärken.
Und zu guter Letzt: Welche Lernfortschritte hast du abseits von Noten gemacht? Was hast du noch gelernt, das nicht in Zahlen gemessen wird?