#116 - Wie du kognitive Verzerrungen austrickst

3 typische Denkfehler beim Lernen

 

Stell dir vor: Du sitzt über deinen Unterlagen, der Timer läuft schon seit drei Stunden. Aber statt ein Gefühl von Fortschritt zu haben, wächst nur dieser eine Gedanke: „Ich kapiere es einfach nicht.“ Die Beispiele im Lehrbuch ergeben Sinn, aber sobald du selbst eine Aufgabe lösen sollst, ist alles weg. Und dann kommt dieser vertraute Satz: „Ich bin einfach nicht gut darin.“


Kennst du das?


Oft liegt das Problem nicht beim Lernstoff selbst. Sondern bei der Art und Weise, wie unser Gehirn die Situation bewertet. Psychologen sprechen von kognitiven Verzerrungen – systematischen Denkfehlern, die unsere Wahrnehmung verzerren und uns das Lernen schwerer machen, als es sein müsste.


Diese Denkfallen sind nicht dumm oder irrational. Sie sind evolutionär sinnvolle Abkürzungen, die unser Gehirn nimmt, um schnell Entscheidungen zu treffen. Nur: Beim Lernen schießen sie oft über das Ziel hinaus.


Die gute Nachricht: Sobald wir diese Muster erkennen, können wir bewusster mit ihnen umgehen – und so den Weg fürs Lernen frei machen.


Im Folgenden stelle ich dir drei besonders typische Denkfehler beim Lernen vor, zeige dir, wie sie funktionieren – und vor allem: wie du sie austricksen kannst.

 

1. Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)


„Ich finde überall nur Beweise, dass ich in diesem Fach schlecht bin.“


👤 Sarah bereitet sich auf ihre Statistik-Klausur vor. Sie hat gerade eine Probeklausur durchgearbeitet – 10 Aufgaben, 7 davon richtig, 3 falsch. Ihr erster Gedanke? „Ich kann das einfach nicht.“ Die drei falschen Aufgaben fallen ihr sofort ins Auge, brennen sich regelrecht ein. Die sieben richtigen? Verschwinden im Hintergrund. „Das war ja auch einfach“ oder „Das war Glück“ – so erklärt sie die Erfolge weg.


Das ist der Bestätigungsfehler in Aktion.


Wie funktioniert dieser Denkfehler?


Der Confirmation Bias beschreibt unsere Tendenz, vor allem das wahrzunehmen, was unsere bestehenden Überzeugungen stützt. Wenn du einmal zu dem Schluss gekommen bist „Ich bin schlecht in Mathe“, dann wird dein Gehirn gezielt nach Bestätigung dafür suchen – und sie auch finden.


Die Folge: Fehler werden zu Beweisen. Erfolge werden unsichtbar oder umgedeutet.


Die Psychologen Peter Wason und später Raymond Nickerson haben diesen Effekt ausführlich erforscht. Wason zeigte in seinen Experimenten, dass Menschen aktiv nach Informationen suchen, die ihre Hypothesen bestätigen – und Informationen, die ihnen widersprechen, systematisch übersehen oder abwerten.


Im Lernkontext bedeutet das:

  • Du erinnerst dich an Fehler stärker als an Erfolge
  • Du interpretierst neutrale Situationen negativ („Der Test war zu leicht, deshalb habe ich bestanden“)
  • Du überschaust deine tatsächlichen Fortschritte, weil sie nicht in dein Selbstbild passen


Dein Ausweg: Den Gegenbeweis trainieren


Um aus dieser Falle herauszukommen, musst du aktiv gegen deine automatische Wahrnehmung arbeiten. Das klingt anstrengend – aber es wird mit der Zeit leichter.


Konkrete Übung 1: Das Erfolgs-Tagebuch


Nimm dir jeden Abend zwei Minuten Zeit und schreibe auf:

  • Eine Situation, in der heute etwas beim Lernen gut geklappt hat
  • Auch wenn es nur eine kleine Sache war: „Ich habe eine Aufgabe verstanden, die mir gestern noch unklar war“ oder „Ich habe mich 20 Minuten konzentriert durchgearbeitet, ohne abgelenkt zu werden“

Warum das funktioniert: Du trainierst dein Gehirn darauf, auch die positiven Datenpunkte wahrzunehmen. Nach einigen Wochen beginnt sich dein Fokus zu verschieben.


Konkrete Übung 2: Die Gegenbeweisfrage

 

Wenn du merkst, dass du dich in einer negativen Überzeugung verfängst („Ich kann das nicht“), stelle dir aktiv die Frage: „Welche Beweise sprechen eigentlich für das Gegenteil?“


Zum Beispiel:

  • Wann habe ich in diesem Fach schon einmal etwas verstanden?
  • Welche Aufgabe konnte ich früher nicht – und kann sie heute?
  • Was würde jemand sagen, der mich objektiv beobachtet?

Diese Frage zwingt dich, die andere Seite zu betrachten. Und oft wirst du überrascht sein, wie viele Gegenbeweise es tatsächlich gibt.

 

2. Das Alles-oder-nichts-Denken (Schwarz-Weiß-Denken)


„Wenn ich nicht alles weiß, bin ich durchgefallen.“


👤 Tom hat sich wochenlang auf eine Präsentation vorbereitet. Er hält sie vor dem Kurs – und stolpert an einer Stelle kurz über seine Worte. Eine Frage kann er nicht perfekt beantworten. Am Ende gibt es Applaus, seine Dozentin lobt die Struktur. Aber Tom sitzt da und denkt nur: „Ich habe versagt.“


Das ist Alles-oder-nichts-Denken.


Wie funktioniert dieser Denkfehler?


Beim Alles-oder-nichts-Denken (auch dichotomes Denken genannt) gibt es nur zwei Kategorien: Erfolg oder Misserfolg. Perfekt oder wertlos. 100 % oder durchgefallen.


Diese Denkweise ist im Lernkontext besonders verbreitet – und besonders destruktiv:

  • Eine Klausur mit 85 % wird als „nicht gut genug“ empfunden
  • Kleine Fortschritte zählen nicht, weil das Ziel ja noch nicht erreicht ist
  • Ein einzelner Fehler in einer sonst gelungenen Arbeit wird zum Beweis für Inkompetenz

Der Psychologe Aaron T. Beck, Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie, beschreibt dieses Denkmuster als eine der häufigsten kognitiven Verzerrungen bei Menschen mit perfektionistischen Tendenzen. Es führt zu chronischer Unzufriedenheit – weil das „Perfekte“ kaum erreichbar ist.

 

Im Lernkontext bedeutet das:

  • Du wertest deine Leistung ab, selbst wenn sie objektiv gut ist
  • Du verlierst die Motivation, weil Fortschritte sich nicht „echt" anfühlen
  • Du setzt dich unter enormen Druck, weil nur 100 % zählen

Dein Ausweg: In Zwischenschritten denken

 

Die Lösung liegt darin, die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß wieder sichtbar zu machen. Das gelingt durch Skalierung und Teilziel-Würdigung.


Konkrete Übung 1: Die 1-bis-10-Skala

 

Statt zu fragen „Kann ich das oder nicht?“, frage dich „Wo stehe ich heute auf einer Skala von 1 bis 10?“

 

Zum Beispiel:

  • Vor zwei Wochen: 3/10
  • Heute: 6/10
  • Nächstes Ziel: 7/10

Warum das funktioniert: Du machst Fortschritt messbar – und erkennst, dass Lernen ein gradueller Prozess ist, kein Entweder-Oder.


Konkrete Übung 2: Teilziele definieren und feiern

 

Zerlege große Lernziele in kleinere Etappen:
Statt: „Ich muss das ganze Kapitel können.“

 

Besser:

  • Schritt 1: Die Grundbegriffe verstehen
  • Schritt 2: Einfache Aufgaben lösen
  • Schritt 3: Komplexe Aufgaben angehen


Und dann – ganz wichtig – feiere jeden erreichten Schritt. Nicht ironisch, sondern ernst gemeint. Jede Etappe ist ein Erfolg.
Ein Tipp aus der Motivationspsychologie: Kleine, erreichbare Ziele erzeugen Erfolgserlebnisse – und Erfolgserlebnisse sind der stärkste Treibstoff für weitere Motivation.

 

3. Der Dunning-Kruger-Effekt


„Ich kann das schon ganz gut – oder: Ich kann gar nichts.“


👤 Lisa lernt seit zwei Wochen Spanisch. Nach den ersten drei Lektionen denkt sie: „Das ist ja einfach! Ich verstehe schon so viel.“ Sie fühlt sich sicher, überspringt die Übungen. Drei Wochen später, als die Grammatik komplexer wird, merkt sie: Sie kann kaum einen Satz bilden.


Gleichzeitig sitzt Max, der seit einem Jahr Spanisch lernt, über seinen Büchern und denkt: „Ich weiß noch gar nichts. Die anderen sind alle viel weiter als ich.“ Dabei kann er sich fließend über Alltagsthemen unterhalten.


Das ist der Dunning-Kruger-Effekt – aus zwei Richtungen.


Wie funktioniert dieser Denkfehler?


Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt ein faszinierendes Muster, das die Psychologen David Dunning und Justin Kruger 1999 in einer Studie nachwiesen:


Phase 1: Wenig Wissen, hohe Selbsteinschätzung Menschen mit wenig Wissen überschätzen ihre Kompetenz, weil sie nicht erkennen, wie komplex das Thema tatsächlich ist. Sie wissen nicht, was sie nicht wissen.


Phase 2: Mehr Wissen, sinkende Selbsteinschätzung Je mehr man lernt, desto bewusster wird einem, wie viel man noch nicht weiß. Die Selbsteinschätzung sinkt – obwohl die tatsächliche Kompetenz steigt.


Phase 3: Expertise, realistische Einschätzung Erst mit echter Expertise kommt eine realistische Selbsteinschätzung zurück.


Im Lernkontext bedeutet das:

  • Anfänger halten sich für fortgeschrittener, als sie sind – und üben zu wenig
  • Fortgeschrittene zweifeln an sich, obwohl sie schon viel können – und verlieren Motivation
  • Beide Extreme behindern effektives Lernen

Dein Ausweg: Realitäts-Checks einbauen

 

Die Lösung liegt darin, deine Selbsteinschätzung regelmäßig mit der Realität abzugleichen.

 

Konkrete Übung 1: Der Erklärungs-Test

 

Nimm dir ein Thema, das du „verstanden" hast, und erkläre es jemandem – ohne Spickzettel, ohne Unterlagen.


Kannst du es flüssig erklären? Kannst du Fragen dazu beantworten? Kannst du Beispiele geben?
Wenn nicht, weißt du: Hier ist noch Übungsbedarf. Dieser Test ist brutal ehrlich – aber genau deshalb so wertvoll.

 

Konkrete Übung 2: Feedback von außen

 

Hole dir regelmäßig externe Perspektiven:

  • Bitte Lehrende um eine Einschätzung: „Wo stehe ich gerade realistisch?“
  • Tausche dich mit Lernpartnern aus: „Wie schätzt du mein Verständnis ein?“
  • Nutze Probeklausuren oder Selbsttests, um objektive Daten zu bekommen

Warum das funktioniert: Du verlässt dich nicht nur auf dein Bauchgefühl, sondern auf überprüfbare Fakten.

 

Konkrete Übung 3: Das Kompetenz-Tagebuch


Führe eine Liste mit zwei Spalten:

  • Kann ich schon: Konkrete Fähigkeiten, die du nachweislich beherrschst
  • Kann ich noch nicht: Themen, bei denen du noch Lücken hast

Diese Liste aktualisierst du alle zwei Wochen. So siehst du schwarz auf weiß, wie sich deine Kompetenz entwickelt – und hast einen realistischen Blick auf deinen Stand.

 

Fazit: Die Brille wechseln


Manchmal ist nicht das Lernen selbst schwer – sondern die Brille, durch die wir es sehen.


Unsere Denkfallen sind nicht böse. Sie sind automatische Programme, die unser Gehirn nutzt, um die Welt schnell zu verstehen. Aber beim Lernen führen sie oft in die Irre: Sie lassen uns Fortschritte übersehen, setzen uns unter Druck oder geben uns ein falsches Bild von unserem Können.


Die gute Nachricht: Sobald wir diese Muster erkennen, können wir bewusster mit ihnen umgehen.


Der erste Schritt ist das Erkennen. Welchen dieser Denkfehler kennst du von dir? Wo tappst du immer wieder in die gleiche Falle?
Der zweite Schritt ist das bewusste Gegensteuern. Nutze die Übungen aus diesem Artikel. Probiere sie eine Woche lang aus – und beobachte, was sich verändert.


Du wirst nicht von heute auf morgen perfekt denken. Aber du wirst Schritt für Schritt mehr Klarheit gewinnen – und damit auch mehr Leichtigkeit beim Lernen.